Traumhafter Ausblick auf einer Wanderung in Armenien, Bild: Thomas Bauer

Die Seidenstraßen entlang nach Osten

Während Europa von Krise zu Krise stolpert, definieren sich die Länder Zentralasiens mit Chinas Hilfe neu. Reisebuchautor Thomas Bauer erzählt von Begegnungen in Tbilissi, Teheran und Samarkand.   

von Thomas Bauer, Reisebuchautor (https://neugier-auf-die-welt.de/thomas-bauer)

„Das alles ist chinesisch!“, sagt Adil und zeigt auf die vierspurige Straße, die den beliebten Yssykköl-See mit Kirgistans Hauptstadt Bischkek verbindet. Früher dauerte die Fahrt sechs Stunden, jetzt nur noch zweieinhalb.

„Das alles ist chinesisch“ bekommt man oft zu hören, wenn man zwischen Osteuropa und Zentralasien unterwegs ist – egal ob es um Straßen und Eisenbahnlinien, Atomkraftwerke und Staudämme oder Spielzeug und Essen geht.

Während Europa sich zunehmend mit sich selbst beschäftigt, findet in einem riesigen, hierzulande kaum beachteten Gebiet ein fundamentaler Paradigmenwechsel statt. Er wird sichtbarer, je näher man China kommt.

Neues Selbstbewusstsein von Istanbul bis Tbilissi

Bibi Chanum Moschee in Samarkand
Bibi Chanum Moschee in Samarkand, Usbekistan, Bild: Thomas Bauer

„Früher gab es für uns nur ein Ziel: Europa“. Das sagt Hamza, der auf einem Partyschiff in Antalya Musik auflegt. Was er dem deutschen Gast höflich verschweigt, ist, dass Europa nicht länger eine Verheißung ist. Stattdessen orientiert man sich zunehmend an den wirtschaftlich starken Ländern der Arabischen Halbinsel und wendet sich Asien zu.

Früher war das anders: Da blickte das ganze Land erwartungsvoll gen Westen; dem wirtschaftlich schwachen Ostteil des Landes, Anatolien, wendete man den Rücken zu. Inzwischen jedoch begreift man die unvergleichliche Lage zwischen Orient und Okzident immer stärker als das, was sie ist: ein geostrategischer Trumpf, der neue Perspektiven eröffnet.

Hamza versucht mittlerweile, eine schwarzäugige Tänzerin zu beeindrucken, indem er die Liebesschwüre von Okan & Volkan aufdreht. „Halden Anlamaz“, schallt es übers Meer – ein Hit, entstanden aus türkischer Folklore, arabischen Einflüssen und westlicher Popmusik.

Weiter östlich, in Armeniens Hauptstadt Eriwan, ist man nicht gut auf die Türkei zu sprechen. Diese weigere sich noch immer, den Opfern der Massaker im Ersten Weltkrieg angemessen zu gedenken. Dabei war Armenien, das im Jahr 301 als erstes Land der Welt das Christentum zur Staatsreligion erhob, immer schon ein Zankapfel. Jahrhundertelang stritten sich Römer und Perser um das fruchtbare Gebiet. Einst reichte es vom Mittelmeer zum Kaspischen Meer; heute bietet das gebirgige Land gerade noch drei Millionen Menschen einen Lebensraum. Acht Millionen Armenier leben außerhalb ihres Landes. Selbst das Nationalsymbol, der Berg Ararat, an dem Noahs Arche gestrandet sein soll, befindet sich nicht länger im Land, sondern wenige Kilometer hinter der Grenze – ausgerechnet in der Türkei.

Thomas Bauer in der altpersischen Residenzstadt Persepolis, Bild: Thomas Bauer

Sobald man die Hauptstadt verlässt, fühlt man sich um Jahrzehnte zurückgeworfen. Kühe und Ziegen überqueren schlaglochübersäte Straßen, „Marschrutkas“, die russische Form der Sammeltaxis, schnaufen staubtrockene Windungen empor. Wohin man sich auch wendet, der Blick gelangt rasch zu einem Berg, an dem man sich kaum sattsehen kann – zumal meist ein wie aus der Zeit gefallenes Kloster spektakulär an dessen Abgrund balanciert. Wer hier ausharrt, wird ähnlich hart und genügsam wie die Felsmassive, die die Landschaft weithin prägen.

Im Nachbarstaat Georgien hat man es hingegen geschafft, einen einträglichen Tourismus zu etablieren, den man mit Bustouren und Fahrradausflügen am Leben hält. Der neueste Schrei ist eine 240 Meter lange Glasbrücke über die Dashbashi-Schlucht, in deren Mitte sich eine diamantförmige Bar befindet.

Vor allem in den Dörfern gibt es noch immer echte Gastfreundschaft, die sich dadurch ausdrückt, dass man ausgiebig miteinander schmaust. Der ahnungslose Gast, der das erste Mal an einer langen Tafel Platz nimmt, meint vielleicht, dass das Gelage nach einer Stunde zu Ende sei. Immerhin hat man da in aller Regel nicht nur die Vorspeise – gefüllte Auberginen oder eine herzhafte Suppe – und einen Fisch verspeist, sondern sich dazu hemmungslos am geradezu süchtig machenden Käsebrot „Chatschapuri“ bedient. Ganz abgesehen vom Wein, den der Tischmeister bei jedem Gang mit einem neuen Trinkspruch eingießt. Dabei beginnt der Spaß erst! Jetzt wird nämlich der Hauptgang aufgetischt, Schaschlik zum Beispiel oder Hammeleintopf, in jedem Fall Fleisch, dazu gibt es reichlich Reis oder Kartoffeln und ein wenig Alibigemüse. Natürlich trinkt man dazu wieder Wein. Nur beim Nachtisch hält man sich zurück: Etwas Obst und ein Kaffee reichen – schließlich beginnt schon am frühen Abend das nächste Gelage.

Mullahs, Moscheen und Mosaike: unterwegs im Iran

Brunnen in Tiflis, Georgien
Brunnen in Tiflis, Georgien, Bild: Thomas Bauer

Was hatten einen Freunde und Kollegen verrückt gemacht, als man in den Iran aufgebrochen ist! Man würde dort entführt werden, meinten sie, ausgeraubt sowieso, von Fanatikern bespuckt und vom Mullah-Regime eingesperrt.

Nichts davon trifft zu. Stattdessen begegnet man freundlichen Menschen, die das Gespräch suchen, denen jedoch die in weiten Teilen des Orients verbreitete Aufdringlichkeit fehlt. Dabei hätten sie Gründe, den „westlichen“ Gast zu hassen: Immerhin sorgen die Sanktionen dafür, dass ihnen das Geld zwischen den Fingern verrinnt und sie sich mit zwei oder mehr Jobs über Wasser halten müssen. So putzen sie morgens vielleicht Hotelzimmer, schneiden dann Kunden die Haare und werden spontan zum Taxifahrer und Reiseführer, sobald sie einen ausländischen Besucher sehen.

Irans Städte sind spektakulär schön. Teheran ist eine moderne Großstadt, in der die Frauen körperbetonte Kleidung tragen und die Männer die Hits von Eminem und The Weeknd mitsingen. Die Bauten Isfahans und die Gärten von Shiraz überwältigen einen vom ersten Moment an. Dazwischen aber fährt man stundenlang durch Halbwüsten, Ödland. Bei knapp 50 Grad verdorren die letzten Sträucher. Im ausgetrockneten Flussbett des Zayandeh spielen Kinder Fußball.

Iran hat ein Wasserproblem. Der Hamun-See ist zeitweise völlig ausgetrocknet, der Urmia-See, zehnmal größer als der Bodensee, könnte in wenigen Jahren folgen. Schuld daran ist nicht nur der Klimawandel, sondern auch die Errichtung von Staudämmen und die exzessive Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen. Vielleicht, so sagt man hinter vorgehaltener Hand, hetzt die Regierung auch darum so übertrieben gegen Israel und die USA: um vom eigenen Unvermögen abzulenken, das wichtigste Problem des Landes zu lösen. Der Iran verdurstet.

Die liebenswerten Schlitzohren von Usbekistan

„Das macht 30.000 Soms, immerhin bin ich einen Umweg gefahren!“

Rustam lächelt unschuldig, setzt sich aber gleichzeitig im Fahrersitz seines Taxis auf und blickt fordernd um sich – eine Mischung, wie sie wohl nur jemand hinbekommt, der lange Zeit Dienstleistungen angeboten hat. Natürlich ist er nur darum länger gefahren, weil er entgegen seiner Beteuerung keine Ahnung hatte, wo in Samarkand sich das gesuchte Hotel befindet. Die Summe entspricht dem Fünffachen des Normalpreises; zudem spekuliert Rustam darauf, dass sein Beifahrer vielleicht nur einen 50.000-Som-Schein hat. Dann könnte er bedauerlich die Schultern heben, behaupten, dass er leider kein Rückgeld habe und schauen, ob er damit durchkommt. Andererseits ist sein Preis noch immer deutlich günstiger als das, was ein Taxifahrer in Deutschland verlangen würde. Insofern ist es letztlich für beide Seiten ein gutes Geschäft.

Auch wenn Teheran die größte Stadt auf den Seidenstraßen ist, schlägt deren Herz doch eindeutig in den usbekischen Oasenstädten Buchara und Samarkand. Schon deren Namen erzeugen Bilder von prachtvollen Moscheen, wuseligen Basaren und liebenswerten Schlitzohren. Und all das stimmt! Vor allem die Sache mit den liebenswerten Schlitzohren.

Die Bauwerke punkten mit ausgeklügelter Statik, mit Rundungen und Kuppeln. Ihnen fehlt das ideenlos Eckige, das in Europa Überhand hat. Zudem sind sie überreicht verziert mit kunstvollen, zuweilen geheimnisvoll wirkenden Mosaiken. Vor allem aber weisen sie immer neue Spielarten von Blau auf. Trotz aller unleugbarer Präsenz wirken sie daher seltsam leicht. Vielleicht drücken sie gar eine Sehnsucht nach dem Meer aus – kein Wunder in einem von nur zwei Ländern der Welt, die „double landlocked“ sind, die also weder selbst noch eines ihrer Nachbarländer einen Meerzugang aufweisen (das andere derartige Land ist Liechtenstein).

Bei aller Schwärmerei sollte man nicht vergessen, dass die meisten Bauten von Sklaven errichtet wurden. Nachdem Tamerlan, auch Timur Lenk oder Amir Temur genannt, im Jahr 1370 Alleinherrscher wurde, begann er seine ebenso grausamen wie erfolgreichen Eroberungsfeldzüge. Baumeister, Handwerker und Künstler der unterlegenen Völker wurden nach Samarkand geschafft, wo sie zu Ehren des fremden Herrschers Moscheen und Paläste errichten mussten.

30 Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion ist sich Usbekistan der eigenen Stärke bewusst. In den Halbwüsten fördert man Gold und Öl. Der mit spanischer Hochtechnologie ausgestattete Elektrozug „Afrosiyob“ bringt einen in Windeseile in alle größeren Städte des Landes – zum Spottpreis und mit einem Service, angesichts dessen jeder Angestellte der Deutschen Bahn vor Scham im Boden versinken müsste. Usbekistan hat es sogar vollbracht, eine eigene Autoindustrie aufzubauen. Das touristische Potenzial des Ferghana-Tals wird eben erst entdeckt.

Damit steigen die Chancen, dass typisch deutsche Eigenheiten auch zukünftig auf eine asiatisch geprägte Mentalität treffen werden: Während man Dinge in Deutschland gerne direkt anspricht, finden die relevanten Aussagen in Usbekistan zwischen den Zeilen statt. Klang das „ja“ eben begeistert oder zögerlich? Auch wird gerne nachgefragt, ob man gerade glücklich sei: „Are you happy?“ Alles andere als ein „Aber natürlich!“ stieße nicht nur auf komplettes Unverständnis, sondern wäre auch ein Affront gegenüber den Gastgebern. Schließlich wird einem viel geboten (auch wenn man einiges davon gar nicht haben möchte). Da kann man schon mal rückmelden, dass man zufrieden ist. So ungefähr jede halbe Stunde.

Das überall zu hörende „brother“ entspricht indessen nicht dem jovialen amerikanischem „bro“. Entstammt es doch einem völlig anderen Familienbild: Die Familie bietet ebenso wie die Nachbarschaft („mahalla“) Orientierung, setzt jedoch gleichzeitig enge Grenzen. Man nutzt Gelegenheiten und verdient Geld, beziehungsweise heiratet und zieht Kinder groß. Individuelle Lebensentwürfe, die diesen Rahmen sprengen, sind nicht vorgesehen. Auch darum gleitet die usbekische Gastfreundschaft oft in Überfürsorge ab. Über all dem liegt jedoch ein Gottvertrauen, eine Ergebenheit mit Tendenz zum Fatalismus, die, verbunden mit der hiesigen Abneigung gegenüber Eile und Hektik, durchaus geeignet sein kann, das Urlaubsgefühl zu erhöhen.

Ein altes Handelsnetz führt in eine multipolare Welt

Hartnäckig halten sich in Europa einige Seidenstraßen-Mythen. Zum Beispiel, dass es die eine Seidenstraße gäbe. Dabei handelte es sich immer schon um ein Geflecht aus Handelswegen. Der Name „Seidenstraße“ wurde erst 1877 vom deutschen Geografen Ferdinand von Richthofen erstmals verwendet. Auf den Handelsrouten wurde nie nur Seide transportiert, sondern auch Felle, Teppiche, Porzellan, Jade und Rhabarberwurzeln, ein beliebtes Abführmittel. Im Gegenzug erwarb man Pferde, Schmuck, Knoblauch, Weihrauch und Kohlrabi. Ideen und Erfindungen gelangten nach Europa – darunter das Papier und Geldscheine, das Spinnrad, der Kompass und der Steigbügel.

Vor allem aber sind die Seidenstraßen mitnichten Vergangenheit; sie sind quicklebendig. China baut sie mit unfassbaren Investitionen aus. 2000 Jahre lang, von 500 vor Christus bis zur Entdeckung Amerikas und der Verlagerung des Handels auf die Seewege, bildeten die Seidenstraßen das Rückgrat des weltweiten Handels. Daran will China anknüpfen und setzt inzwischen auf die „Digital Silk Road“, auf Glasfaserkabel, 5G-Abdeckung und mobiles Bezahlen. Das Forschungsprojekt „China Standards 2035“ hat das Ziel, chinesische statt „westliche“ Standards voranzutreiben.

„Früher wart Ihr die Herren der Welt“, sagt Adil mit unasiatischer Offenheit, während vor uns der Yssykköl-See, umrahmt von Viertausendern, wie eine Verheißung aufscheint. Mittlerweile sind wir bereits einige Tage gemeinsam unterwegs. „In Zukunft wird es aber mehr als nur ein Machtzentrum geben. Und irgendwie ist das gerechter als eine Welt nach dem Willen der USA, oder?“

Dass sich Europa nicht für Zentralasien interessiert, könnte sich bald rächen. Während man hierzulande aufgrund immer neuer Krisen nicht länger imstande zu sein scheint, über den Tellerrand zu blicken, werden anderswo Weichen für die Zukunft gestellt. Man muss die aktuellen Entwicklungen nicht gutheißen. Aber hinschauen sollte man schon: Die Zukunft ganz Zentralasiens hängt an seidenen Pfaden.