Wer heute wissen will, wie spät es ist, greift in Hosen- oder Jacketttasche und zieht sein Handy heraus. Und wer noch eine Armbanduhr am Handgelenk trägt, tut dies häufig nur noch, weil das gute Stück für ihn oder sie eine Art Schmuck darstellt. Manchmal sind Uhren aber auch einfach eine Investition, wovon einen bereits ein kurzer Blick ins „Espace Horloger“, einem Museum für Zeitmesser im Schweizer Vallée de Joux, Kanton Waadt, überzeugt. Hier repräsentiert eine kleine, feine Uhren-Armee einen Teil der Vergangenheit des abgelegenen Tals im Kanton Waadt. Tick-tack, tick-tack, so einfach geht entschleunigen. Nach analogen Chronometern sucht man hier meist vergebens, diesem musealen Ort beherrschen noch der Stunden- und Minutenzeiger.
Wir sind ganz im Nordwesten der Schweiz, wo die Täler noch rau und die Menschen bisweilen ein wenig zurückhaltend, aber ehrlich sind. In diesem frankophonen Teil des Landes schweigt mancher lieber, als dass er allzuviel herausplappert. Die Natur ist in der Westschweiz noch echt, unverbrüchlich. Zwei Juraketten schmiegen sich dicht an dicht an den „Lac de Joux“, dem See, der dem vielen noch unbekannten Gebiet seinen Namen verlieh. Sonnenliebhaber kommen schnell mal ins Zittern, die mittlere Juli-Temperatur in Le Sentier beträgt unter 14 Grad. Im Winter friert das Gewässer dafür ziemlich schnell zu, was den Eisläufern sehr entgegen kommt. Sie gleiten dann mehr oder weniger elegant auf der größten Natureisbahn Europas dahin. In den umliegenden Bergen lässt es sich prima Skilaufen, was unter Wintersportlern allerdings immer noch eher ein Geheimtipp ist. Für den Tourismus hat das Vallée de Joux noch viele Kapazitäten frei, wer hier die gute Luft genießen will, wird Entspannung und Erholung finden. Und begibt sich ein wenig abseits des Getriebes der Welt: „Wir leben hier in einem völlig abgeschlossenen Tal“, sagen die Bewohner gern, „und das hat uns geprägt.“ Man fährt in den Höhen oft ziemlich weit, bis das nächste Gehöft kommt, auch heute noch.
Weil man im Vallée aber auch schon in früheren Jahrhunderten gern mal über den Tellerrand lugte – in dem Fall also über die heimischen Gebirgsketten hinweg – wanderte der eine oder andere frühere Einwohner beherzt ins nahe, südlich gelegene Genf. Wo die Schweizer Uhrmacherkunst gewissermaßen ihre Wiege hat; schon der Vater des 1712 geborenen Philosophen Jean-Jacques Rousseau war in dem damaligen Stadtstaat in diesem ehrbaren Gewerbe tätig. Da lag es nahe, dass diese exklusive Fertigkeit von ausländischen Lehrlingen oder Meistern zielstrebig in deren Heimat exportiert wurde. Zuhause zeigten diese für damalige Verhältnisse Weitgereisten ihre neuerworbene Kunst dann auch den Bauern der Gegend. Was deren Alltag schnell revolutionierte: Im Sommer standen die Landwirte des Vallée de Joux weiter bei jedem Wetter auf dem Feld. Im Winter widmete man sich in der Wohnstube dem komplexen Zusammensetzen von zu der Zeit trendigen Taschenuhren als zusätzlichem Broterwerb. Ein feines Händchen zu haben, war für die Erschaffung der filigranen Stücke schon immer eine grundlegende Voraussetzung. Bis heute ist das Tal weltweit bekannt und berühmt für die besonders ausgefeilten „Komplikationen“, also die Zusatzfunktionen beim Uhrwerk.
Im Rahmen einer Führung im „Espace Horloger“ in Le Sentier bekommt man weitere Details zur Geschichte dieses Teil des Waadtlands zu hören: „Ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden im Vallée de Joux Eisenteile hergestellt, welche man zunächst für große Uhren verwendete“, erläutert Sonja Pousset vom „Espace Horloger“, dem Museum dieser Kunst. Nach und nach gewann die Produktion von Zeitmessern so ein immer größeres Gewicht, längst bildet die Technische Schule die Meister von morgen aus. Schließlich sollen die edlen Zeitmesser hier immer weiter ticken. Auch die lange Reihe der prominenten Marken, welche ihre Herstellung in die bescheidene Ortschaft Le Sentier verlegt haben, ist beeindruckend: Patek Philippe, Vacheron Constantin – die älteste ununterbrochene Uhrenmanufaktur der Welt -, Jaeger-LeCoultre, Gérald Genta. Meist herrscht in diesen Firmen das typisch Schweizer Understatement, manche Produzenten geben sich auch unverblümt selbstbewusst. In einem anderen Dorf hier, Le Brassus, hat etwa das Musée Atelier Audemars Piguet seine luxuriösen Zelte aufgeschlagen. Auch dort bemerkt man auf den ersten Blick, dass die Marke in der Oberklasse ihrer Liga spielt – und man ist keineswegs gewillt, dies zu verbergen. Das erst 2020 errichtete „Musée Atelier“ mit ausgewählten Exponaten aus der eigenen Historie zeugt von unverhohlenem Stolz auf das eigene Können und Wollen.
Vom blendenden Gold und Silber, das die Werke von Audemars Piguet umschmeichelt, geht es weit schlichter hinauf zur Alpweide „Le Pré de Bière“. Der Bauernhof in luftiger Höhe befindet sich inmitten von 116 Hektar Jura-Weiden, auf denen zwischen Juni und September über 100 Kühe ihr Futter finden. Die Rinder des Vallées sind an harte Bedingungen gewöhnt und verzehren gelassen das Gras des Hochtals. Auf „Le Pré“, das zur Ortschaft Le Bière gehört, stellt man eine lange Reihe Lebensmittel selbst her. Besucher finden einen Laden sowie eine Schaukäserei im Freien vor, die schmackhaften, hauseigenen Erzeugnisse dürfen gerne mitgenommen werden. Alpenfleisch, Käse sowie Süßes – Meringen, hausgemachtes Eis oder Honig – gehören dabei zu den Verkaufsschlagern.„Wir greifen aus Überzeugung zu einer traditionellen Herstellung und setzen dabei ganz auf die unverfälschten Produkte der Natur“, betont die Familie Germain, welche hier auf 1345 Metern über dem Meeresspiegel wirtschaftet.
Am Ende einer spannenden Reise zeigt sich uns das Vallée de Joux als ein Ort, an dem scheinbare Gegensätze – wie purer Luxus und gelebte, einfache Tradition – friedlich nebeneinander existieren. Die Waadtländer sind stolz auf ihre vielfältige Geschichte. Mit Erfolg haben sie den kargen Gebirgsboden sowie die Fertigkeiten ihrer Vorfahren in die moderne Zeit gebracht. Für Sport-, Uhren- und Naturliebhaber lohnt es sich rund ums Jahr, dieses zwischen Gebirgszügen versteckte Kleinod für sich zu entdecken. Alle anderen werden bestimmt ihren eigenen Weg finden, um ihre Liebe für dieses früher ziemlich abgelegene Schweizer Tal zu entdecken. Hier, wo die meist handgefertigten Uhren noch ein wenig anders als sonst wo ticken; aber ganz sicher stets aufs Hundertstel korrekt.