In kaum einem anderen Land der Welt prallen die Gegensätze derart intensiv und fast immer ohne einen Puffer aufeinander. In Indien wird es als normal akzeptiert, dass es keine Übergänge gibt zwischen einem Leben in der Steinzeit und den Fortschritten des Computers. Diese Extreme gibt es auch in Puri, wo sich ein feinkörniger Sandstrand, die Swargadwar-Beach, bis ins dreißig Kilometer entfernte Konarak am Golf von Bengalen erstreckt. Puri ist ein heiliger Ort des Hinduismus, denn der Tempel Jagannath ist Vishnu, dem „Herrn des Universums“, geweiht. Und er ist seit mehr als einem Jahrtausend ein wichtiger und viel besuchter Wallfahrtsort in einem Land, in dem freiwilliges Leiden der Gläubigen gleichbedeutend ist mit der Suche nach Erlösung von den irdischen Qualen.
Die große Prozession zu Ehren des Gottes Vishnu
Eines vorweg: Der riesige und mit mehr als hundert Heiligtümern gesegnete Jagannath-Tempel ist allein den Hindus vorbehalten. Urlauber müssen sich mit dem Blick auf die Fassaden begnügen und begeben sich zumeist auf ein Dach der Bibliothek von Raghunandan in der Umgebung des Tempels, um einen Blick ins Innere der Anlage zu werfen. Wer das Glück hat, der Stadt am Golf in den Monaten Juni oder Juli einen Besuch abzustatten, kommt dann vielleicht in den Genuss eines ungewöhnlichen Festes. Beim traditionellen Wagenfest werden riesige Tempelwagen von bis zu viertausend kräftigen Männern durch die Straßen der Stadt gezogen. Die Prozession zu Ehren des Gottes Vishnu beginnt am Jagannath-Tempel, führt über rund drei Kilometer und endet am Gundica-Tempel. Die Küstenstadt im ostindischen Bundesstaat Orissa ist nicht nur wegen des historischen Rath-Yatra-Festes eine Reise wert. Das kulturelle Erbe dieser Metropole am Meer offenbart sich nicht nur in Tempeln, sondern auch in den engen Gassen der alten Stadt.
Ein Speiseopfer aus der großen Tempelküche
Die Wallfahrtsstätte Jagannath in Puri stammt aus dem 7. Jahrhundert und erhielt fünfhundert Jahre später ihre heutige Form. Die Stadt war ehemals ein Teil des früheren Königreichs Kalinga. Der eindrucksvolle Tempel in Puri umfasst neben den vier Haupthallen über zahlreiche Schreine und einen mehr als fünfzig Meter hohen Turm. In der riesigen Tempelküche erhalten tagtäglich bis zu 25.000 Pilger eine warme Speise. In erster Linie handelt sich dabei um einen Linsenbrei mit Gemüse. Gekocht wird das sogenannte Speiseopfer in irdenen Töpfen. Die Gläubigen erwerben diese Mahlzeit für ein paar Rupien. Die Tempelküche gilt als eine der größten auf dem Globus. Im Volksmund wird der Tempel-Komplex von Puri als „Der Stolz Indiens“ bezeichnet. Er zählt zu den heiligsten Stätten des Landes und ist eine von vier Pilgerorten, die jeder indische Hindu in seinem Leben besucht haben sollte. Im weitläufigen Areal des hinduistischen Tempels sind permanent bis zu 5.000 Priester und Mitarbeiter beschäftigt. Als bevorzugte Zeit für eine Reise zum Golf von Bengalen gilt der Zeitraum von Oktober bis Februar.
Ein zweites Heiligtum: „Das Haus der Tante“
Neben der großen Wallfahrtsstätte Jagannath, die in Indien als „Weiße Pagode“ bekannt wurde, ist der Gundicha-Tempel ein weiteres Heiligtum der Küstenstadt am Golf. Er erhielt den Beinamen „Das Haus der Tante“ und ist jene Stätte, in der sich einer indischen Legende zufolge der Gott Vishnu mit seinen Geschwistern aufgehalten hat, um sich eine Woche lang zu erholen. Der Tempel ist von einem gepflegten und schönen Garten umgeben und besteht aus einem gelben Sandstein. Umschlossen wird die Anlage von einer Mauer. Mit dem Gundicha-Tempel von Puri verbinden sich unzählige Legenden, die das Leben des Vishnu zum Inhalt haben. Seine Geschichte ist eng verbunden mit dem Haupttempel Jagannath und ist alljährlich das Ziel des Wagenfestes zu Ehren der Gottheit. Geöffnet wird der Gundicha-Tempel ausschließlich zum Zeitpunkt des Festes.
Vor dem Gang zum Tempel ein rituelles Bad im Meer
Wer in Puri weilt, wird sich nach der Besichtigung der heiligen Stätten auf ein erfrischendes Bad im Meer freuen. Hier treffen die Besucher unter anderem auf gläubige Hindus, die vor dem Gang zum Jagannath-Tempel ein rituelles Bad am Golf von Bengalen nehmen. Einen besonderen Charme entwickelt der lange Sandstrand von Puri in den frühen Stunden des Tages, wenn über dem Ozean am Horizont die Sonne aufgeht. Wer sich während des Aufenthalts am Golf von Bengalen einen nahezu unberührten Strandabschnitt wünscht, der findet ihn im acht Kilometer entfernten Ort Balighai. Dort erreicht der Fluss Nuanai das Meer. Interessant ist dort eine Visite des Schildkröten-Forschungs-Instituts. Mit ein wenig Glück können Besucher der weitläufigen Casuarinen-Wälder an den Uferzonen des Flusses die scheuen Baliharina-Rehe entdecken. Sehenswert ist aber auch das in der Umgebung von Puri gelegene Künstlerdorf Raghurajpur. Hier hat man sich insbesondere auf die Fertigung der berühmten Patachitras, der traditionellen indischen Malereien auf Tüchern, spezialisiert.